Was ist eigentlich Orientalismus?

Vorderer Orient, orientalische Spezialitäten, Orient Döner, Shampoos mit Duft Oriental Nights – das Wort „Orient“ ist in unserem Sprachgebrauch sehr präsent. Doch anders als eine rein geographische Bezeichnung vermittelt der Begriff viel mehr. Vor unserem inneren Auge erscheinen wahlweise Kamele, der Geruch von Gewürzen, Wüstenlandschaften, verschleierte Frauen, exotische Klänge, kurzum eine fremde Welt und Lebensart.

Kinoplakat mit orientalistischen Bildern
© Julia Neumann

Es ist uns meisten nicht bewusst, dass mit diesen Vorstellungen und Bildern ein klares Hierarchiegefälle ausgedrückt wird. Die Präsenz des „zivilisierten Westens“ der über – und nicht mit – dem „ursprünglichen Osten“ redet und damit seine Repräsentation maßgeblich gestaltet, ist kein absolut neues Phänomen.
Ende der 80er Jahre untersuchte der Literaturwissenschaftler Edward Said die Konstruktion dieses Narratives des Orients in englischen und französischen Quellen der Kolonialzeit. Seine These ist, dass „der Orient“ vor allem ein wesentlicher Teil europäischer Kultur und Herrschaftspolitik ist und weniger ein reales Abbild der Region selbst. Unsere Vorstellungen über „den Orient“ haben somit nichts damit zu tun, wie das Leben und die Menschen vor Ort wirklich sind.

Trotzdem spielt dieser Orientalismus, wie Said dieses mind-set nennt, gerade in unserer medialen Welt weiterhin eine große Rolle. Es hat nicht nur Auswirkungen auf unsere westlichen Gesellschaften, sondern auch auf die Gesellschaften in Westasien und Nordafrika.

Warum scheinen wir dennoch diesen Gegenentwurf „Orient“ zu unserem „Okzident“ zu brauchen? Und wie blicken und blickten die Menschen in Westasien auf diesen Begriff? Zusammen mit Ayşê, Vorsitzende des Vereins dis:orient, begeben wir uns in dieser Episode auf Spurensuche – in der Geschichte, in der Gegenwart, in Ost und in West.


Da wir in der Episode viele Fachwörter, Namen und Konzepte verwenden, findet ihr nachfolgend ein Glossar mit Erklärungen dazu:

Amanullah Khan –  1926 bis 1929 war er König von Afghanistan und wollte jenes Land nach dem Vorbild der Türkei modernisieren.

Autoritarismus – ist eine Form der Herrschaft, bei der die Machtausübenden keiner wirklichen Kontrolle des Volkes unterstehen. Autokratien begrenzen den Pluralismus und fördern oftmals das Nationalgefühl. Im 21. Jahrhundert sehen wir in vielen Ländern einen schleichenden Übergang von Demokratie zur Autokratie. Dafür werden Institutionen und Behörden (z. Bsp.: Verfassungsgerichte), die demokratischen Strukturen gewährleisten systematisch abgebaut und zivile Bewegungen, die sich für Minderheiten und Pluralismus stark machen, angegriffen. Beispiele dafür sind Ungarn, Polen und die Türkei.

Dersim entspricht dem heutigen Tunceli, der zweitkleinsten Provinz im Südosten der Türkei

Dichotomie – zweigliedrige Einteilung – z.B. im Bezug auf Stadt und Land, bzw. im Kolonialismus die Idee von Zentrum (z.B. Paris) und Peripherie (z.B. Algerien)

Edward Said (geb. 1935 in Jerusalem; gest. 2003, NY, USA) Linguist, der mit seinem Buch Orientalismus weltberühmt wurde.

Geopolitik – interdisziplinäres Forschungsgebiet, dass im Erkennen der räumlichen Bedingungen eine wichtige Voraussetzung für die Erklärung politischer Strukturen und Prozesse besonders im internationalen Kontext ansieht. Beispiel: Kurden in der Türkei

Gertrude Bell – „Mutter des Iraks“ und „Wüstenkönigin“. Siehe unsere Folge: https://www.nahostcast.de/gertrude-bell/

Harem – حريم heiliger Ort, heiliger Bereich, ein separater Wohnbereich für Frauen und Kinder.

Industrialisierung – der Prozess, während dem sich ein Agrarstaat zu einem Industriestaat entwickelt. Der Prozess kann auch umgekehrt in Form eine Deindustrialisierung stattfinden, wie es häufig in ländlichen Regionen passiert. Beispiel dafür wäre die von der BRD herbeigeführte Deindustrialisierung der ehemaligen DDR Bundesländer nach der Wende. (Siehe: https://www.dw.com/de/zwei-standorte-deutschland/a-17734201)

Johann Wolfgang von Goethe – Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ von 1819. Goethe, der niemals einen Fuß in den „Orient“ setzte, orientierte sich für seinen Gedichtband an dem persischen Dichter Hafis.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/200-jahre-west-oestlicher-divan-goethes-dichterischer.976.de.html?dram:article_id=455090

Kolonialistisch/Kolonialismus – Staatliche Besetzung und Inbesitznahme von Land und Leuten und eine damit verbundene Ausbeutung der Bodenschätze und Unterdrückung und teilweise Tötung der dort zuvor lebenden Bevölkerung

Konfessionalismus – betont die konfessionellen Unterschiede. Zum Beispiel die Aufspaltung des Christentums in verschiedene Konfession. Im Libanon wurde die Identifikationen der Libanesen mit ihrer Konfession so stark gefördert, dass ein fünfzehn jähriger Bürgerkrieg (1975 – 1990) ausbrach.

Thomas Edward Lawrence alias Lawrence von Arabien – vor allem bekannt durch den gleichnamigen Film. Mischt ordentlich zugunsten der Briten in der „arabische“ Revolte gegen das osmanische Empire während des ersten Weltkrieges.

Mustafa Kemal Atatürk – geboren 1881 in Thessaloniki (damals Teil des Osmanischen Reiches) gilt er als Begründer der türkischen Republik und erster Präsident der Türkei. Nach dem Osmanischen Reich schuf und stärkte er die Idee einer türkischen Identität.

Studie unter Leitung von Naika Fatoun: Die Studie des DeZIM-Instituts untersucht Parallelen in den Abwertungen von benachteiligten Gruppen – in diesem Fall von Ostdeutschen und Muslim*innen.

https://www.dezim-institut.de/das-dezim-institut/abteilung-konsens-konflikt/projekt-postmigrantische-gesellschaften/ost-migrantische-analogien-i-konkurrenz-um-anerkennung/

https://www.deutschlandfunk.de/soziologie-studie-zu-vorurteilen-deutsche-identitaet-wird.694.de.html?dram:article_id=457739

Orientalismen – in der „westlichen“ Kunst, Literatur, Architektur, Mode, .. übernommene „orientalische“ Stile und Stereotypen.

Othering – die (negative) Abgrenzung von der Eigenen, als normal angesehene Gruppe zu einer Anderen als andersartig oder fremd bezeichneten Gruppe. Der Begriff kommt aus dem Kontext der postkolonialen Theorie und wurde unter anderem von Edward Said als „Konstrukt des Anderen“ geprägt.  (https://transfer-politische-bildung.de/mitteilung/artikel/es-geht-darum-macht-und-herrschaftsverhaeltnisse-zu-hinterfragen-interview-mit-christine-ri/)

Pluralismus/Pluralismen/pluralistisch – eine politische Grundeinstellung, nach der eine innerhalb eines Staates vorhandene kulturelle Vielfalt an Menschen gleichberechtigt und miteinander lebt. Die Akzeptanz des Pluralismus und dem einhergehenden Minderheitenschutz ist der ein Grundstein aller demokratischen Gesellschaften und Staaten und der Schrecken jedes Autokraten und AFDlers.

Postkoloniale Theorie – die kritische Auseinandersetzung mit historischen und gegenwärtigen Machtverhältnissen. (siehe: https://gender-glossar.de/glossar/item/41-postkoloniale-theorie)

tradiert – traditionell, überliefert, überkommen

Türkentum – Die Idee einer einheitlichen türkischen Gesellschaft, die sich u.a. durch die türkische Sprache zusammengehalten wird. Teil dieses Prozesses beim Aufbau dieser Idee war u.a. die Abschaffung der arabischen Schrift und Ersetzung durch lateinische Buchstaben.

Wutbürger – Menschen (überwiegen ältere, weiße Männer), die aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen, der Meinung sind es wäre ihr Recht Mitmenschen ungehemmt aufs übelste zu beschimpfen und Morddrohungen an diejenigen zu verteilen, die nicht ihrer Meinung sind.

Zentralismus – ein politisches Strukturprinzip bei dem alle obersten Machtinstanzen eines Staates möglichst an einem Ort – meist der Hauptstadt – sind. Die Idee dahinter ist ein starker Staat, dessen politische Entscheidung von einem kontrollierbaren Machtzentrum aus, auf den Rest des Landes ausstrahlt. In Europa ist Frankreich das Beispiel für Zentralismus. In Deutschland gilt eher das Prinzip des Regionalismus, der durch das föderative System der 16 Bundesländer gestützt wird.